„Die Aussetzungen der Gespräche über Staatsverträge mit den islamischen Religionsgemeinschaften richten großen Schaden an. Die Debatte ist geprägt von einer sehr kurzsichtigen Politik“, erklärt Bekir Altaş, Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG), anlässlich der Entwicklungen in den Bundesländern um Staatsverträge mit den islamischen Religionsgemeinschaften. Bekir Altaş weiter:
„Muslime in Deutschland haben mit der Gründung der ersten islamischen Religionsgemeinschaften in den Siebzigern ganz ohne ‚Staatsverträge‘ für eine organisierte und flächendeckende religiöse Grundversorgung aller Muslime in Deutschland gesorgt. Dank dieser Zusammenschlüsse sind Muslime in Deutschland in der Lage, die fünf Grundgebote des Islams zu erfüllen. Darüber hinaus haben sie flächendeckende Jugend-, Bildungs- und Beratungsangebote im sozialen Bereich etabliert. Die islamischen Religionsgemeinschaften werden die Grundversorgung sowie weitere Dienstleistungen – unabhängig von den aktuellen Entwicklungen – auch in Zukunft gewährleisten sowie diese weiter ausbauen.
Die Frage im Kontext der aktuellen Entwicklungen um die Staatsverträge ist, ob Muslime diese Aufgaben auch in Zukunft komplett in Eigenregie durchführen werden oder ob eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Staat möglich sein wird. Es geht also keinesfalls darum, dass die Politik den Muslimen mit den sogenannten Staatsverträgen entgegenkommt, sondern es geht vielmehr darum, dass ohne die Mitwirkung der Muslime der Staat in bestimmten Bereichen nicht tätig werden kann, beispielsweise im Bereich der Seelsorge, des Religionsunterrichts oder im Bereich der muslimischen Wohlfahrtpflege. Die religionsverfassungsrechtlichen Regeln hierzu sind klar formuliert, sofern sich der Rechtsstaat daran hält. In diesem Sinne wird in den Staatsverträgen lediglich zusammengefasst, was ohnehin bereits Praxis beziehungsweise gesetzlich geregelt ist. Mit Bedauern stellen wir nun fest, dass in manchen Bundesländern sogar die weitestgehend obligatorische Zusammenfassung der ohnehin gelebten Praxis in einem ‚Staatsvertrag‘ schwerfällt.
Insofern stellt sich die Frage, ob die Länder überhaupt noch wissen, worum es in der Sache eigentlich geht: nämlich nicht um die islamischen Religionsgemeinschaften als Gebilde, sondern um die Muslime. Es geht darum, dass der Staat ihnen signalisiert, dass er sie in ihrem Vorhaben, ein muslimisches Leben in Deutschland zu ermöglichen und zu etablieren, unterstützt. Dieses integrationspolitische Signal zum Aufbau eines Heimatgefühls ist wichtig und längst überfällig. Die Abkehr vom ‚Staatsvertrag‘ bewirkt aber genau das Gegenteil. Eine weitsichtige Integrationspolitik bedarf einer erschöpfenden Abwägung der integrationspolitischen Folgen dieses Misstrauensvotums, die in diesen Zeiten politisch nicht möglich scheint.
Des Weiteren stellt sich die Frage, aus welchem Grund die Politik die islamischen Religionsgemeinschaften oftmals in die Position des Bittstellers rückt. Ein Blick in die aus muslimischer Sicht ohnehin oftmals suboptimal formulierten ‚Staatsverträge‘ zeigt, dass Muslime in den allermeisten Tätigkeitsbereichen ohnehin Strukturen aufgebaut haben bzw. ihre Rechte in langwierigen und mühsamen Prozessen erstritten haben. Lediglich in Themenbereichen wie der muslimischen Seelsorge in Haftanstalten oder der Bestattung in Deutschland wären Muslime auf die Zusammenarbeit mit der Politik als Gesetzgeber und staatlichen Stellen angewiesen. Hierzu stellen wir fest, dass bisher noch kein einziger Muslim unbestattet geblieben ist. Es geht lediglich um die Frage, ob er in seiner ursprünglichen Heimat bestattet wird oder ob Deutschland ihm signalisiert, dass er sich auch hier beheimatet fühlen kann. Die islamischen Religionsgemeinschaften werden die Bestattungen in jedem Fall begleiten – ob hier oder woanders. In puncto Seelsorge in Haftanstalten zum Beispiel dürfte das Interesse der Politik an einer Umsetzung sogar noch größer sein.
Die aktuellen Entwicklungen irritieren auch im Hinblick auf die Gutachten in den Bundesländern. Während ein Gutachten nach dem anderen den islamischen Religionsgemeinschaften den Status als solche bescheinigen, zögert die Politik mit einer formalen Anerkennung der Religionsgemeinschaften, zum Teil mit haarsträubenden Begründungen. Verwunderung löst dies vor allem auch deshalb aus, weil die Auftraggeber dieser Gutachten die Landesregierungen selbst sind.
Für Unverständnis auf Seiten der Muslime sorgen ebenfalls die Begründungen für die aktuellen Aussetzungen. Sofern es Vorwürfe gegenüber einzelnen Religionsgemeinschaften gibt, so geht das, was bisher bekannt ist, nicht über wenige Einzelfälle hinaus, die bereits Gegenstand laufender Ermittlungen sind. Es gehört sich nicht nur, sondern es ist Pflicht, den Abschluss dieser Ermittlungen abzuwarten. Konsequenzen auf personeller Ebene können anschließend noch immer gezogen werden. Allerdings ist es beispiellos, gleich eine komplette Religionsgemeinschaft und sogar mehrere Islamische Religionsgemeinschaften samt ihren Mitgliedern in Sippenhaft zu nehmen für mutmaßliche Taten Einzelner. Diese unzulässige Pauschalisierung muss aufhören, was wir brauchen ist eine vorausschauende und verantwortungsvolle Politik.
Sollten die aktuell laufenden Verhandlungen tatsächlich unterbrochen werden, wird der Prozess in vielen Bundesländern zwangsläufig von Null beginnen müssen. In diesem Fall sind Muslime gut beraten, die bisherigen Verhandlungsergebnisse ihrerseits auf den Prüfstand zu stellen im Hinblick auf den tatsächlichen Nutzen dieser ‚Staatsverträge‘ für das muslimische Leben in Deutschland.“